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50.000 Euro für Kläger: Bundessozialgericht erleichtert Anspruch auf Ghetto-Rente

Aktualisiert am 20.05.2020-20:04

Egal ob Stadtteil mit Zaun oder einzelnes Haus auf dem Land - jüdische Verfolgte haben grundsätzlich Anspruch, so sie unter den Nazis zwangsweise daheim bleiben mussten. Blick auf das Bundessozialgericht in Kassel.
Bild: dpa

Jüdische NS-Verfolgte müssen für eine Ghetto-Rente nicht in einem klassischen Ghetto während der NS-Zeit gelebt haben. Durften sie ihr Haus nur in wenigen Ausnahmen verlassen, liegt ein ghettoähnlicher Aufenthalt vor, der eine Ghetto-Rente begründen kann, urteilte am Mittwoch das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel. (AZ: B 13 R 9/19 R).

Nach dem Ghettorenten-Gesetz können jüdische NS-Verfolgte unter bestimmten Voraussetzungen für ihre "Ghettobeschäftigung" von der Deutschen Rentenversicherung eine Ghetto-Rente erhalten. Hierfür müssen Betroffene zwangsweise in einem "Ghetto" im damaligen NS-Einflussgebiet gelebt und ein Entgelt - etwa in Form einer Extraportion Essen - für die geleistete Arbeit erhalten haben.

Im Streitfall hatte der heute in den Vereinigten Staaten lebende 91 Jahre alte jüdische Kläger eine Ghetto-Rente beantragt. Er lebte von 1939 an im polnischen Sarnów, einem Ort mit damals rund 100 Einwohnern. 21 Menschen waren Juden und durften ihre Häuser nur zur Arbeit oder für unerlässliche Besorgungen verlassen. Der Kläger hatte für das deutsche Militär gearbeitet, indem er Lkws wusch.

Die Deutsche Rentenversicherung Nord lehnte die Ghetto-Rente dennoch ab. Der Mann habe nicht in einem Ghetto gelebt, sondern in seinem eigenen Haus.

Das BSG urteilte nun, dass der 91 Jahre alte Mann Anspruch auf eine Ghetto-Rente habe. Der Begriff des Ghettos sei nicht klar definiert und müsse weit ausgelegt werden. Deutschland habe mit der Ghetto-Rente NS-Unrecht so weit wie möglich ausgleichen wollen. Mit dem Ghettorenten-Gesetz habe der Gesetzgeber zunächst nur geschlossene Ghettos wie etwa das im polnischen ód im Blick gehabt. Damit liege aber eine Regelungslücke vor.

Denn die überwiegende Zahl der Ghettos seien offene Ghettos gewesen. Letztlich könne auch ein auf dem Land befindliches Haus ghettoähnlich sein. Voraussetzung hierfür und damit für den Rentenanspruch sei, dass die jüdischen Verfolgten in dem Haus zwangsweise bleiben mussten und sie nahezu keine Möglichkeit hatten, ihre Bewegungsfreiheit auszuüben.

Nach Angaben des Anwalts stehen dem Kläger etwa 200 Euro monatlich sowie eine Nachzahlung in Höhe von um die 50.000 Euro zu. Gerettet aus Auschwitz : Kennung Z 10540 Bild: Nicole Rodrigues

Quelle: FAZ vom 20.05.2020


Zahlung für NS-Zeit: Bundessozialgericht spricht wegweisendes Urteil zu Ghettorenten Ein Jüdin verkauft aus einem Koffer Dinge auf der Straße des Lubliner Ghettos im Jahr 1939
(Foto: SZ Photo)
Menschen, die in der NS-Zeit in einem Ghetto Arbeit verrichtet haben, können Anspruch auf Rente haben. Die Frage, was unter einem Ghetto genau zu verstehen ist, legten Kasseler Richter nun großzügig aus.

Von Edeltraud Rattenhuber

Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel hat am Mittwoch erneut ein richtungsweisendes Urteil zum Thema Ghettorenten gefällt. Einem 91 Jahre alten Mann jüdischen Glaubens, der als Kind in der NS-Zeit in Polen auf sein Haus beschränkt leben musste, aber nicht im bisher geläufigen Sinne "ghettoisiert" war, sprach das Gericht eine Ghettorente zu. Damit wies das BSG die Revision der Deutschen Rentenversicherung Nord zurück (Aktenzeichen B 13 R 9/19 R).

Diese hatte argumentiert, dass der Aufenthalt in einem Ghetto die Konzentration der jüdischen Bevölkerung in einem bestimmten abgrenzbaren Wohnbezirk verlange, was bei dem Kläger aber nicht der Fall gewesen sei. Ein Verzicht auf das Kriterium der Konzentration würde zur "Uferlosigkeit des Begriffs des zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto" führen. In einem zweiten, ähnlich gelagerten Fall bekam die Witwe eines Nazi-Opfers Witwenrente zugesprochen. Laut Angaben des Anwalts der beiden Kläger hat das Urteil auch Auswirkung auf weitere anhängige Verfahren.

Mit dem Urteil vom Mittwoch setzt das Bundessozialgericht seine klägerfreundliche Haltung in Bezug auf Ghettorenten fort. 2010 hatte es in einer historischen Entscheidung Zehntausenden NS-Opfern erstmals eine Rente für Arbeit im Ghetto zugesprochen. Tausende Rentner konnten seitdem auf eine monatliche Rente zwischen 180 und 220 Euro hoffen. Das Geld wird rückwirkend von 1997 an gezahlt, dem Jahr der ersten Ghetto-Entscheidung des Bundessozialgerichts.

Wie ist ein Ghetto zu definieren? Über diese Frage hat der 13. Senat des Bundessozialgerichts die vergangenen Monate zahlreiche Akten gewälzt. In seiner Urteilsbegründung konzentrierte er sich aber letztlich nicht so sehr darauf, den Begriff des Ghettos weiter zu fassen, wie von der Rentenversicherung befürchtet. Das BSG stellte fest, dass sich für den Begriff "Ghetto" weder ein "ausreichend verfestigter und konkretisierter juristischer Sprachgebrauch" noch ein allgemeines Begriffsverständnis finden lasse. Daher begründete das Gericht seine Urteilsfindung letztlich mit dem Sinn und Zweck des Ghettorentengesetzes. Die Bedingungen, unter denen der Kläger in seinem Dorf leben musste, seien denen eines zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto gleichzustellen, urteilte das Gericht, und daher müsse die Rentenversicherung zahlen.

Die Juden von Sarnów waren nach ihrem Verständnis ghettoisiert

Der 1929 geborene Herbert B. lebte während der deutschen Besatzung Polens mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in Sarnów, einem 100-Einwohner-Dorf im Distrikt Krakau. Damals gab es dort drei Familien jüdischen Glaubens mit insgesamt 21 Personen, die Nachbarn waren überwiegend sogenannte "Volksdeutsche". Nicht weit entfernt von Sarnów lag das Zwangsarbeiterlager und spätere Konzentrationslager Mielec. Die Juden von Sarnów waren nach ihrem Verständnis ghettoisiert, da sie ihre eigenen Häuser außer für die Arbeit und für notwendige Besorgungen nicht verlassen durften. Das hatte auch das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht anerkannt. Es sah daher den Kläger als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes.

Nach der Besetzung durch die deutschen Truppen 1939 wurde die jüdische Bevölkerung in Sarnów nicht nur gezwungen, Armbinden mit dem Davidstern zu tragen. Die jüdischen Familien waren in ihrer Bewegungsfreiheit auch auf ihre Wohnungen beziehungsweise Häuser beschränkt. In der Zeit von Januar 1940 bis März 1942 putzte Herbert B., damals noch ein Kind, Wohnungen, führte Reinigungsarbeiten auf dem Gelände des deutschen Militärs durch und wusch Militär-Lastwägen, wofür er "Lohn" in Form einer Extraportion Essen erhielt. Im März 1942 wurde die gesamte jüdische Bevölkerung der nächst größeren Stadt Mielec und der umliegenden Ortschaften - einschließlich Sarnów - erschossen, zur Vernichtung deportiert oder in Zwangsarbeitslager gebracht.

Mit seinem Antrag, eine Regelaltersrente unter Berücksichtigung von "Ghetto-Beitragszeiten" zu bekommen, war Herbert B. zunächst bei der Rentenversicherung ebenso erfolglos gewesen wie beim Sozialgericht Lübeck. Beide stützten sich in ihrer Begründung auf die herkömmliche Definition von einem Ghetto als geschlossener Einheit. Für die während der deutschen Besetzung verrichteten Reinigungsarbeiten könnten keine Beitragszeiten anerkannt werden, da der Kläger sich in dieser Zeit nicht zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten habe. Das Landessozialgericht hingegen verurteilte die Rentenkasse. Sie müsse Rente zahlen. Denn auch wenn die jüdische Bevölkerung in Sarnów in ihren Wohnhäusern bleiben durfte, sei doch von einem zwangsweisen Aufenthalt in einem Ghetto im Sinne des Gesetzes auszugehen. Die ausgeübte Beschäftigung sei unter weitgehender Einschränkung der Freizügigkeit ausgeübt worden.

In einem zweiten Fall klagte Ruth K., die Witwe eines 1912 geborenen und im März 2007 verstorbenen Polen jüdischen Glaubens, der 1939 mit seiner Familie in dem polnischen Ort Padew nahe Mielec gemeinsam mit acht anderen jüdischen Familien lebte. In der Zeit von Februar 1940 bis Februar 1942 arbeitete er im Straßenbau, wofür er bezahlt wurde. Danach wurde die jüdische Bevölkerung Padews sowie der umliegenden Gemeinden in das Zwangsarbeitslager Biezadka verbracht. Ruths K.s Mann hatte bereits 2002 erfolgslos einen Antrag auf Ghettorente gestellt. Nachdem er gestorben war, stellte die Witwe einen Antrag - ebenfalls zunächst erfolglos.


Quelle: © SZ.de/jael


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 16.01.2023 - 16:54